Flüchtlinge 1933 und heute

22. November 2016

Am Sonntag, den 13. November 2016 fand um 15:30h als „alternativer Volkstrauertag“ eine Gedenkveranstaltung für die in der NS-Zeit umgekommenen Zwangsarbeiter*innen in MS-Hiltrup statt. Hier möchten wir zwei der Redebeiträge zum Thema Flucht wieder geben.

Zunächst der Redebeitrag der VVN-BdA zu den Flüchtlingen, die ab 1933 vor den Nazis fliehen mussten.
Als zweites folgt der Redebeitrag des Bündnisses gegen Abschiebungen in Münster.

Durch die Nazis ausgelöste Fluchtbewegungen

Unser Hauptthema ist heute Flucht und Vertreibung von 1933-45. Hierzu möchte ich aus dem Leben eines Mitglieds meiner Organisation, der VVN-BdA, berichten. Leider ist er schon am 29. Oktober 2006 verstorben.

Peter Gingold wurde am 8.03.1916 in Aschaffenburg in einem jüdischen Elternhaus geboren. Er wurde 1931 Mitglied im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands. Seine Familie emigrierte im Mai 1933 nach der Machtergreifung der Nazis nach Frankreich. Er folgte im Herbst 1933.
Sie flohen vor Terror und Verfolgung wie es heute immer noch viel zu vielen Menschen ergeht.

Damals mussten aus Deutschland viele Millionen Menschen fliehen. Sie wurden aufgrund ihres Glaubens, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Abstammung und/oder ihrer Weltanschauung verfolgt und terrorisiert.
Nach der Besetzung der (ost-)europäischen Länder durch deutsche Soldaten nach 1939 mussten noch viel mehr Menschen diesen Terror erleiden. Auch die Menschen derer wir heute hier gedenken.

Peter Gingold arbeitete in Paris bei einer deutschsprachigen Zeitung und gründete mit anderen deutschen Antifaschist*innen die „Freie deutsche Jugend“ FDJ.
Also Merke die FDJ wurde nicht in der DDR sondern in Paris gegründet.
Hier heiratete er Etti Stein-Haller und gründete mit ihr eine Familie.
Nach dem Einmarsch der deutschen Armee schloss er sich der „Resistance“, dem französischen Widerstand an. Vor allem arbeitete er für die „Travail allemand“. Eine Organisation, die sich um Propaganda bei den deutschen Besatzungssoldaten kümmerte.
Die Soldaten sollten zur Zusammenarbeit mit der Resistance bewegt werden. Also kann der Name „Travail allemand“ auch salopp als „Arbeit an den Deutschen“ übersetzt werden.
Diese Arbeit war für Peter Gingold sehr gefährlich. So wurde er im Februar 1943 von der Gestapo gefasst, wochenlang verhört und gefoltert. Durch einen glücklichen Umstand gelang ihm die Flucht.
Das Haus am Boulevard St. Martin No. 11 war sein Glücksfall und durch eine ihm bekannte Besonderheit beim Türschließmechanismus gelang ihm die Flucht.
Kurze Zeit nach der Flucht schloss er sich wieder der Resistance an.
Er beteiligte sich dann sogar am Aufstand zur Befreiung von Paris, was dann gelang.
Eine Frau rief ihm vor lauter Dankbarkeit für seinen Befreiungskampf zu „Monsieur vous etes un grand patriot“ (Mein Herr, sie sind ein großer Patriot.)
Diese Dame sah Patriotismus als Bekenntnis.
Die heutige Rechtspartei „Front National“ und viele der Konservativen Frankreichs würden ihr Staatsbürgerrecht heute gerne umschreiben, nämlich genau von der Abstammung abhängig machen. Was dann der NS-Rassenideologie („Blut und Boden“) entsprechen würde.

Das zeigt wie wichtig heute noch das Vermächtnis Peter Gingolds ist und auch wie wichtig sein Beispiel ist für den Widerstand, der heute und in Zukunft geleistet werden muss.

Detlef Lorber

Redebeitrag vom Bündnis gegen Abschiebungen

Der Volkstrauertag ist ein problematischer Feiertag. Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges hieß er Heldengedenktag, zum Gedenken an die für den Wahnsinn der deutschen Kriegstreiberei des ersten Weltkriegs getöteten Soldaten. In der Bundesrepublik wurde der Tag in Volkstrauertag umbenannt – aber nicht weniger problematisch, da es nach wie vor hauptsächlich um die Erinnerung an diejenigen ging, die „für Volk und Vaterland“ getötet wurden.

Dennoch ist es sehr wichtig, in diesem Zusammenhang um so mehr der anderen Opfer der Weltkriege zu gedenken. Die ZwangsarbeiterInnen, die in Hiltrup lebten und von denen viele ums Leben kamen, machen bis heute einen Aufschrei nötig. Einen Schrei der Erinnerung, wegen dem, was passiert ist und einen Schrei der Erinnerung, dass sich so etwas in der Geschichte nie wiederholt. Deshalb ist eine antifaschistische Erinnerungskultur so wichtig – gegen das Vergessen und für andere Verhältnisse, für die Zukunft.

Doch was sich heute an den Grenzen Europas und im Innern der BRD mit den Verschärfungen des Asylrechts und rechter Gewalt als bittere Realität abspielt, erscheint als „Opfer produzierenden Geschichte“. Die Zahl der sogenannten sicheren Herkunftsländer ist gestiegen. Allein um Menschen schneller aus Deutschland abzuschieben wurden Staaten als sicher eingestuft. Wobei sich die Frage stellt, was für eine Definition viele Politiker*innen von dem Wort „sicher“ haben.

Dies hat noch viel weitreichendere Folgen. Menschen, die aus diesen Staaten kommen unterliegen nach den neusten Asylrechtsverschärfungen noch unmenschlicheren Auflagen. Sie sind verpflichtet bis zur Ausreise oder Abschiebung in sogenannten Aufnahmeeinrichtungen zu bleiben. Dies bedeutet auch, dass sie dauerhaft der ehemals abgeschafften Residenzpflicht ausgesetzt sind und führt zu einer gesellschaftlichen Isolation ganzer Bevölkerungsgruppen. Auch werden Leistungen gekürzt und die Möglichkeit geschaffen Sachleistungen statt Bargeld ausgehändigt. Das verhindert eine gesellschaftliche Teilhabe und ein Leben in Selbstbestimmung Neben den innerdeutschen Verschärfungen der Gesetze steht der Türkei-Deal. Menschen, die aus der Türkei irregulär in die EU, also Griechenland einreisen, sollen zurückgeschoben werden. Faktisch werden keine Prüfungen der Schutzbedürftigkeit durchgeführt. Auch ein rechtsstaatliches Verfahren, wie es die Menschenrechtskonvention garantiert ist nicht vorhanden. Tausende Menschen sitzen in Griechenland ohne die Möglichkeit auf einen Rechtsbeistand im Gefängnis.

Dies ist nur ein Teil der weiteren Abschottung Europas. Die sogenannte Balkanroute wurde systematisch dicht gemacht. Hier in Deutschland kommen weniger Geflüchtete an und viele Menschen freuen sich darüber. Es wird der Eindruck erweckt, es würden sich weniger Menschen auf den Weg machen. Doch durch Grenzschließungen und Etataufstockung von Frontex wird die ganze Szenerie nur ausgelagert. Vor den Mauern der Festung sitzen tausende Menschen fest und kommen nicht weiter. Freiwillige Helfer*innen werden kriminalisiert – beispielsweise zur Zeit in Serbien. Menschen, die dort in Parks Schlafsäcke und Jacken verteilen müssen nun mit Repressionen rechnen.

Doch damit nicht genug. Zurzeit wird über weitere sogenannte sichere Herkunftsländer diskutiert. Afghanistan, Irak, Algerien, Marokko um nur ein paar zu nennen. Diese „Diskussion“ basiert nicht auf der realen Situation vor Ort, sondern auf dem Versuch den besorgten Bürger*innen hierzulande entgegen zu kommen. Das alles ist das Einlösen des Merkelschen „Wir schaffen das!“ Es geht eben nicht um eine rein humanitäre Intervention der Bundesregierung, die im Sommer der Migration 2015 handlungsleitend war, sondern die außenpolitischen Bedingungen z.B. im Verhältnis zur Türkei. Diese machten ein Handeln notwendig und führten zu einer kurzfristigen Öffnung der Grenzen. Dieser Prozess war jedoch vor allem ein emanzipatorisches Einreißen der Grenzzäune durch die Geflüchteten, die der Autonomie ihrer Migration und Bewegungsfreiheit kurzzeitig Ausdruck verliehen. Das Dublin-System war für mehrere Monate ausgesetzt und schien sogar überwunden zu sein. Wer nicht in der BRD bleiben wollte, konnte nach Skandinavien weiterziehen. Eine große Welle der Solidarität in der bundesdeutschen Bevölkerung wurde ebenfalls zum Ausdruck eines zwischenzeitlich veränderten Paradigmas der Durchsetzung von Menschenrechten und Würde.

Doch auf den Sommer der Migration folgte ein tiefer kalter Winter. Schuld hieran ist nicht etwa eine Reaktion auf „zu viele die ins Land gekommen sind“ ,sondern dass sich der nationalschauvinistische Diskurs gerade der etablierten Parteien wieder durchsetzen konnte. Die Logik der Nützlichkeit und Verwertung des Humankapitals spielten bei der Öffnung der Grenzen eine wichtige Rolle. Daraus folgte die Überzeugung, dass „Integration und Selektion in den migrationspolitischen Strategien Hand in Hand gehen müssen“, wie es Volker Kauder von der CDU gesagt hatte. Doch auch der Obergrenzen Diskurs, der selbst von Teilen der Linken vorangetrieben wurde, spielte eine wichtige Rolle darin, dass die herrschende Meinung kippte.

Zusammen mit den Asylrechtsverschärfungen war dies der beste Nährboden für PEGIDA und AFD, die auf dieser Grundlage der etablierten Parteien nun ihr Programm bestens an die Bevölkerung bringen können. Dies ist somit nicht einfach ein Rechtsruck, sondern eine Zuspitzung der bisher herrschenden Politik.

Als konkrete Folge der Verschärfungen seit 2015 haben wir es auch in Münster mit immer mehr Abschiebungen zu tun. Waren es im letzten Jahr „nur“ 70, wurden im ersten Halbjahr 2016 schon 65 Menschen aus Münster abgeschoben. Dies stellt uns als Bündnis gegen Abschiebungen Münster vor immer größere Herausforderungen. Einerseits in der konkreten Verhinderung von Abschiebungen und andererseits in der politischen Diskussion um die Illegitimität von Abschiebungen. Gerade bei letzterem gibt es für uns immer weniger Anknüpfungspunkte in der Zivilgesellschaft: Zu stark scheint die Plausibilität dass das Boot voll sei, Kapitalinteressen gewahrt werden müssten, und das geltende Recht umzusetzen sei. Bemerkbar macht es sich zum Beispiel bei kleinen Protestkundgebungen nach Abschiebungen . Immer wieder kommen dort Menschen auf uns zu, die ihrem Unmut über unsere Forderungen und Ziele äußern. Rassistische Meinungen sind auch in Münster alltäglich geworden. Hinzu kommt, die klare Unterscheidung zwischen „denen“ und „uns“, wobei das „wir“ eine viel höhere Stellung einnimmt.

Deshalb macht uns gerade die Erinnerung an die ZwangsarbeiterInnen hier in Hiltrup heute deutlich, wie groß die Gefahr des Faschismus und rassistischer Zustände sind. gerade deshalb lassen wir in unserer antirassistischen Praxis gegen das Abschieberegime nicht locker…Denn die Gefahr, dass sich DIESE Geschichte wiederholt besteht. Richten wir unsere Praxis für das gute Leben für alle an dieser Erinnerung aus.